Lean Banking 3.0

Kim Y. Mühl
6 min readJun 16, 2021

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Kennen Sie das schwächste Glied Ihrer Wertschöpfungskette?

Wie ich in meinem Buch (“Bank 4.0: Wie Digital Leader Gewinne steigern, Kosten senken und neue Ertragsquellen erschließen”) ausführlich diskutiere, vollzieht sich die Digitale Transformation sowohl intern als auch extern. Damit die Digitalisierung effektiv vollzogen werden kann, ist es daher ratsam, sich zunächst die größten internen Hürden bewusst zu machen, welche Banken in ihrer Innovation und Digitalen Transformation hemmen. Allen voran steht die Verteidigung bestehender Strukturen, die sowohl von der Chefetage als auch von den Mitarbeiter:innenn ausgeht. Zusätzlich haben Banken mit fehlenden Personalressourcen, fehlendem Know-how, fehlender Toleranz für Fehlversuche (mangelnder Fehlerkultur), fehlender Verantwortlichkeit, fehlender Finanzierung, zu vielen Entscheidungsebenen, technischen Herausforderungen, Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Prozessen und fehlender Ideenfindung zu kämpfen.

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Lean Banking (2.0) stellt die Kund:innen in den Mittelpunkt

Lean Banking ist eine Antwort auf ein sich schnell veränderndes Umfeld und die damit verbundenen Herausforderungen und Priorisierungen von Maßnahmen. Das aktuelle Finanzumfeld, geprägt durch Renditereduzierung, Niedrigzins und Wettbewerbsdruck, führt seit einiger Zeit zu einer Rückbesinnung auf Lean Management- und Lean Banking-Prozesse. In den frühen Neunzigerjahren bedeutete Lean Banking im Grunde das Übertragen der Konzepte von Lean Production und Lean Management aus der Güterindustrie in den Bankbereich. Der Begriff lean (zu Deutsch: schlank) wurde erstmals 1990 vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) geprägt und bezog sich auf die Optimierung von Produktivität. In einer MIT-Studie wurden die größten Produktivitätsunterschiede untersucht. Das Institut musste erkennen, dass Japans Wirtschaft — angefangen mit Toyota in der Automobilindustrie bis hin zu Großbanken im Finanzsektor — mit weit weniger Personal sehr viel effektiver und profitabler waren als Unternehmen in Deutschland oder den USA. Aus diesen Forschungen ging das Konzept des Lean Management hervor.

Lean ist ein besonders wirksames Instrument zur Kostensenkung für das Front-Office und den Betrieb. Im täglichen Betrieb lassen sich laut Boston Consulting Group (BCG) bis zu 30% der Kosten reduzieren. Noch drastischer können die Prozesszykluszeiten verkürzt werden. Verbesserungen von 30% bis 60% sind hier keine Seltenheit. „Verbesserte betriebliche Kontrollen, geringere Risiken, weniger Fehler und eine höhere Geschwindigkeit führen wiederum zu einer verbesserten Kundenerfahrung und -zufriedenheit“, erklären Christophe Duthoit, Simon Bartletta und Rozinder Bhatia von der BCG. Darüber hinaus hilft Lean Thinking (Lean-basiertes Denken) Entscheidungsträger:innen bei der Entscheidungsfindung, auf welchen Serviceniveaus oder Betriebsabläufen der Fokus von Verbesserungen liegen sollte. Nicht zuletzt bieten schlankere Wertschöpfungsketten auch den Mitarbeiter:innen einen hohen Mehrwert indem sie unnötige Arbeitsschritte ausmerzen. Dies wiederum kann sich positiv auf die Arbeitsmoral und die Fluktuationsrate auswirken.

Lean Banking 2.0 orientiert sich wiederum an der Wertschöpfung für die Kund:innen. Beim ursprünglichen Lean Banking ging es darum, Mitarbeiter:innen und Ressourcen so effizient wie möglich im Sinne der Produktivität einzusetzen. In einem kollektiven Unterfangen entwickelte eine Vielzahl von Akademiker:innen dieses Konzept — teils unabhängig voneinander — allerdings weiter. Beim Lean Banking 2.0 wird die Verschlankung in den strategischen Planungsprozess der Finanzunternehmen eingebunden und umfasst Innovation-und Perfektionierungsaspekte, Regularien und Prozesse, sowie auch die Unternehmensphilosophie und Leitlinien. Im Mittelpunkt steht dabei immer eine besonders starke Kunden-, Markt- und Wertschöpfungsorientierung sowie die Einfachheit von Prozessen, Produkten und Dienstleistungen.

Es gibt weiche und harte Faktoren bei Lean Banking-Prozessen

Die Verschlankung einer Wertschöpfungskette hat sowohl Auswirkungen auf einzelne Prozesse als auch auf die Unternehmenskultur. Aus diesem Grund ist es ratsam, zwischen harten und weichen Faktoren zu unterscheiden. Zu den organisatorischen, harten Lean-Faktoren zählen Wertschöpfungsorientierung, Einfachheit, Innovation und Kaizen sowie eine starke Kunden- und/oder Marktorientierung. Unternehmenskulturelle/verhaltensorientierte weiche Lean-Faktoren hingegen setzen sich mit der Optimierung der Informationslogistik sowie der Fehler- und Unternehmenskultur und einer starken Mitarbeiterorientierung auseinander. Im Folgenden gehe ich näher auf die harten Faktoren ein.

  • Bei der Wertschöpfungsorientierung (engl.: value orientation) geht es darum, Verantwortung, Ressourcen und Prozesse so zu konzentrieren, dass eine Wertschöpfung stattfindet. Gleichzeitig geht es darum, möglichst viel zu automatisieren und standardisieren, sowie Servicefunktionen, die nicht direkt mit dem Kerngeschäft korrelieren (etwa Rechenzentrumsleistungen oder juristischen Beistand) auszulagern.
  • Einfachheit (engl.: simplicity) bedeutet, dass sich alle Abläufe, Strukturen, Mitarbeiter, Produkte und Dienstleistungen an der einfachsten Wertschöpfung orientieren. So soll Doppelarbeit vermieden und Unnötiges weggelassen werden. Aber auch die Produktpalette sollte so einfach (verständlich) wie möglich aufgebaut und gebündelt werden. Hier spielt das Thema Kundenindividuelle Massenanfertigung (engl.: mass customization) künftig eine tragende Rolle.
  • Innovation und Kaizen beschreiben zwei Seiten einer Medaille. Der japanische Begriff Kaizen bedeutet „Veränderung zum Guten“ und beschreibt einen ewigen Verbesserungsprozess — das Streben nach Perfektion — und hängt eng mit der Qualitätskontrolle zusammen. Auch die Deutschen sind bekannt dafür, bestehende Prozesse oder Produkte bis ins Absurde zu verbessern. So wird etwa jedes Jahr ein vermeintlich neues Produkt vorgestellt, das wenige Prozent kosteneffizienter ist oder besser performt. Bei Innovation, oder weitergedacht Disruption, geht es hingegen um sprunghafte Veränderungsprozesse, für die eine kontinuierliche Verbesserung (Kaizen) nicht mehr ausreicht. Eines kann ohne das andere nicht bestehen, wenn ein Finanzunternehmen langfristig erfolgreich sein will.
  • Eine starke Kunden- und Marktorientierung ist zwingend erforderlich für den Erfolg eines Unternehmens. Finanzinstitute erhalten ihre Daseinsberechtigung am Markt dadurch, dass sie Kundenbedürfnisse heute und zukünftig befriedigen.

Lean-Methoden erfordern Commitment und Kommunikation

Lean Management bringt einen reellen kulturellen Wandel — von der höchsten Entscheidungsebene bis zur Basis der Organisation. Wenn die Führungskräfte nicht an die Verschlankung glauben und bereit sind, ihre Mitarbeiter:innen zu motivieren, zu beruhigen und zu befähigen, werden diese nicht mitziehen. Kurzum: Lean Thinking muss Teil Ihrer Unternehmens-DNA werden.

Ein ganzheitlicher, Multifacetten-Ansatz für eine Lean-Initiative vereint Top-Down-, Bottom-Up- und Middle-Out-Komponenten. Sofern Ihr Unternehmen noch in klassischen hierarchischen Organisationsstrukturen denkt, ist die Identifizierung und Formulierung klarer Ziele auf funktionsübergreifender Unternehmensebene in der Regel Aufgabe des Top-Management. Genauso wichtig ist jedoch, dass alle betroffenen Fach- und Führungskräfte eingebunden und befähigt sind, sich mit den Prozessverbesserungen zu identifizieren und diese kontinuierlich voranzutreiben. Die Middle-Out-Komponente ist Bindeglied zwischen Top-Down und Bottom-Up Management. Die Kunst besteht darin, dass das Mittlere Management befähigt ist, Entscheidungen zu treffen und Veränderungen oder Änderungsempfehlungen an der Front effektiv ans Top-Management zu berichten.

Bei der Verschlankung spielt daher die Informationsvermittlung eine besondere Rolle. Eine effektive unternehmensinterne Informationslogistik ist in der Lage “die richtige Information zum richtigen Zeitpunkt an den richtigen Platz zu bringen, und das wirtschaftlich“. Zum falschen Zeitpunkt oder an die falsche Person (Empfänger:in) gerichtete Informationen können hingegen schnell zu Verunsicherung führen und die Dynamik innerhalb des Unternehmens auf den Prüfstand stellen. Im schlimmsten Fall kann eine empfundene „Zwei-Klassengesellschaft“ entstehen, bei der manche Mitarbeiter:innen aufgrund bevorzugter Behandlung stärker informiert oder einbezogen werden als andere. Nicht ohne Grund haben traditionell denkende Unternehmen klare Informationshierarchien etabliert. So werden neue Informationen in einigen Unternehmen erst an sogenannte Change Agents und anschließend an den Wirtschaftsausschuss oder Betriebsrat vermittelt, bevor sie an die Mitarbeiter:innen gelangen.

Die Herausforderung der Lean-Methode liegt in ihrer Anwendung. Lean muss holistisch, also ganzheitlich aus einer unternehmens- und funktionsübergreifenden Perspektive, angewendet werden. Die Verschlankung auf einzelne ‚Silos‘ zu beschränken ist wenig erfolgsversprechend. Gleichzeitig funktioniert eine Verschlankung nur, wenn sie schrittweise eingeführt wird. Goliath-Projekte, die sich über Jahre ziehen sind zum Scheitern verurteilt. Erfolgsversprechend sind hingegen einzelne, in kurzen Sprints durchgeführte und gezielt aufeinander abgestimmte Pilotprogramme.

Digitale Schlüsseltechnologien bahnen den Weg für Lean 3.0

Die nächste Stufe der Lean-Methode ist der Einsatz von Schlüsseltechnologien wie Cloud Computing, Künstlicher Intelligenz und der Blockchain/DLT-Technologie, um den immer komplexeren Anforderungen und Strukturen der Finanzwelt gerecht zu werden. Die größte Herausforderung in diesem Zusammenhang wird es sein, weiterhin die Kund:innen nicht aus den Augen zu verlieren und die Wertschöpfungskette auch in der hypervernetzten Onlinewelt lean zu halten. Allerdings steht lean dann nicht mehr für schlank im klassischen Sinne: Wir werden immer mehr dezentrale Wertschöpfungsketten im digitalen Ökosystem haben, in denen unterschiedliche Finanzunternehmen und -teilnehmer:innen agil, flexibel und selbstorganisiert eine Wertschöpfung betreiben werden. Die Wertschöpfungsketten dahinter — obwohl die Begriffe Wertschöpfungsnetzwerk (engl.: value network) oder Wertschöpfungsökosystem (engl.: value ecosystem) es treffender beschreiben — können nicht zentral geplant und organisiert werden. Der Wandel von Lean 2.0 auf Lean 3.0 setzt somit neben leistungsstarken Technologien vor allem auch Digitalität und die Bereitschaft zur Veränderung voraus: Aspekte, auf die ich in meinem Buch ausführlicher eingehe.

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Dies war ein Ausschnitt aus Die große Meta-Studie zu den Chancen und Risiken der Digitalen (R)Evolution im deutschen Finanzbereich | TEIL 1:Bank 4.0: Wie Digital Leader Gewinne steigern, Kosten senken und neue Ertragsquellen erschließen.

Mehr erfahren Sie auf: https://www.bionicwealth.de/bank-4-0/

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Kim Y. Mühl
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