Die Digitale (R)Evolution | Teil 4: Entwickeln Sie ein Digital Mindset

Kim Y. Mühl
8 min readJan 23, 2021

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‘Digital first’ ist nicht immer die beste Wahl!

Ein Aspekt, auf den ich gerne näher eingehen möchte, ist der oft zitierte Ansatz ‚digital first’. Meistens ist es absolut sinnvoll zu digitalisieren, auch wenn das ein Risiko für das Unternehmen und die eigene Karriere darstellt. Doch manchmal ist es ratsam, einen Trend oder eine Technologie bewusst auszusetzen. Nicht jedes Digitalisierungsvorhaben ist richtig und sinnvoll; nicht alles muss digitalisiert werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Kosten etwa den Nutzen überwiegen, wenn das Vorhaben negative Auswirkungen auf Mitarbeiter:innen hat (z. B. weil diese durch permanente Erreichbarkeit, Leistungsdruck und Information Overload psychisch unter Druck gesetzt werden), oder wenn das Vorhaben einen Schaden für Image/Reputation mit sich bringt (z. B. weil mit eine/m Partner:in gearbeitet wird, der/die unethisch agiert, wie beim Skandal um Facebook & Cambridge Analytics).

Ich behaupte deshalb: „digital first“ ist selten ein guter Rat, denn er verleitet schnell zur Scheindigitalisierung und verunsichert Mitarbeitende und Kund:innen. Entscheidungen sollten stattdessen von Digital Prudence geleitet werden. Viel wichtiger ist es, verantwortungsvoll zu denken und zu handeln. Auch das zeugt von einem Digital Mindset. Die Philosophin und Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle schreibt dazu: „Was riskieren wir, wenn wir eine Entscheidung aussetzen? (…) Das Aussetzen ist kein Warten, kein ängstliches oder unentschlossenes Aufschieben. Es muss nicht in die Tat umgesetzt werden, es kann sich ausblenden und an seinem eigenen Rückzugsort auflösen. Schon in seinem ‚Nicht-Handeln‘ ist es ein Ereignis.“[1]

Digital Prudence — die Kunst, die richtigen Weichen zu stellen

Ein Begriff, der es mir besonders angetan hat, ist deshalb ‚Digital Prudence‘. Prudence bedeutet soviel wie „Sorgfalt, Umsicht, Besonnenheit, (oder) „vorausschauende Klugheit“[2]. Prudence bedeutet zugleich „Mut (und) Vorsicht“.[3] Der Begriff könnte kaum beschreibender sein, für die Fähigkeit, die Entscheider:innen im digitalen Zeitalter benötigen. Daher möchte ich gerne einen neuen Begriff vorschlagen: Digital Prudence.Konkret verbinde ich mit dem Begriff Digital Prudence die Kunst, die richtigen Digitalisierungs-Entscheidungen zu treffen; also die Fähigkeit, kluge und informierte Entscheidungen zu treffen, bei denen die potenziellen Risiken und zukünftigen Auswirkungen berücksichtigt werden, 2. die Fähigkeit zwischen sinnvoller Digitalisierung und Digiwashing zu unterscheiden und 3. die mentale Stärke, zu Entscheidungen zu stehen und sowohl Veränderungen als auch Gegenwind auszuhalten.

Warten Sie nicht, bis ein Projekt schiefläuft und sich Fehler einschleichen, die mit etwas Voraussicht hätten verhindert werden können. Warten Sie nicht, bis ein Geschäftsmodell gänzlich ausgedient hat und Sie mehr kostet als es Ihnen einbringt, bevor sie es abschaffen. Warten Sie nicht, bis ein Trend, von dem Sie bereits überzeugt sind, sich erst im Markt bewährt. Fangen Sie stattdessen an, Digital Prudence zu praktizieren!

Die Digitale (R)Evolution beginnt im Kopf!

In Zukunft werden traditionelle Maßnahmen wie die Optimierung des Produktportfolios, Kostensenkungsprogramme oder das Abstimmen regulatorischer Anforderungen nicht mehr ausreichen. Damit Finanzunternehmen sich digital aufstellen können — sei es als Kundenplattform oder Produkt- und Infrastrukturspezialist — , ist ein Digital Mindset vonnöten. Denn: Digitalisierung ist eine bewusste Entscheidung, den Weg in eine Zukunft einzuschlagen, die schon begonnen hat. Diese Zukunft gilt es jetzt gemeinsam zu gestalten.

Das digitale Mindset ist eine Haltung, Mentalität und Einstellung; eine Denkweise, die sich kritisch mit analogen Prozessen und Lösungen auseinandersetzt und kritisch hinterfragt, ob diese mithilfe digitaler Technologien sinnvoll automatisiert oder optimiert werden können, oder gänzlich abgelöst werden sollten. Damit einher geht eine grundsätzliche Neugierde, bzw. Offenheit für digitale Entwicklungen und den Digitalen Wandel und ein grundlegendes Verständnis für die Möglichkeiten und Potenziale, die die Digitale (R)Evolution mit sich bringt. Unser digitales Mindset drückt sich in unserem Verhalten und unserem Commitment gegenüber uns selbst und anderen aus.

Ein digitales Mindset ist die Summe von Verhaltensmustern, basierend auf einer offenen und neugierigen Grundhaltung gegenüber State-of-the-art-Technologien. Sie beinhaltet das grundlegende Verständnis, dass und wie digitalisierte Prozesse massiven Einfluss auf unser Leben, unsere Arbeit sowie unsere Kommunikation nehmen und propagiert den Anspruch ‚digital first‘.“[4] — Stefan Scheller, Fachberater Personalmarketing und Employer Branding bei DATEV eG.

Auf Innovation im Finanzbereich übertragen, bricht das Digital Mindset zunächst mit traditionellen Entwicklungsprozessen: Wurden Produkte früher in sterilen Entwicklungsabteilungen entworfen, so finden Entwicklungsprozesse nun entlang der Kundenbedürfnisse statt. Auch im Marketing werden Strategien nicht mehr ausschließlich auf der ‚grünen Wiese‘ (Greenfield) entwickelt, sondern in Interaktion mit den Endnutzer:innen kontinuierlich optimiert. Das Leistungsangebot wird nicht mehr als die Palette eigener Produkte verstanden, sondern als offenes Portfolio, in dem sowohl an eigenen als auch an Produkten Dritter verdient werden kann. Damit wird das Finanzunternehmen sowohl zum Leistungsbringer als auch zum Intermediär.[5]

Auch Prozesse werden im Digital Mindset offen und System-Grenzen-übergreifend gedacht. Einer der wichtigsten Aspekte im Digital Mindset jedoch ist das Credo der offenen Fehlerkultur: Aus Rückschlägen abteilungsübergreifend lernen, ist von zentraler Bedeutung. Dabei bedeutet dies keineswegs, dass Fehler erwünscht sein sollten oder schwerwiegende Risiken eingegangen werden müssen. Vielmehr können digitale Initiativen in geschützten Räumen konzipiert, entwickelt und getestet werden (zum Beispiel an Nischenmärkten oder über das Testen verschiedener Webseitenoberflächen). Erfolgversprechende Initiativen können anschließend ausgebaut und in die breite Organisationsstruktur eingebunden werden.[6]

Im großen Unterschied zu gängigen Definitionen wie der obigen von Herrn Scheller, nach denen ein digitales Mindset zunächst dem ‚digital first‘-Konzept folgt, ist es meine tiefgreifende Überzeugung, dass ein digitales Mindset ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein voraussetzt. Erstens gilt es, jede digitale Lösung, jede technologische Neuerung und jede Innovation zunächst kritisch auf deren Sinn, Zweck und Auswirkungen zu überprüfen: Ist die Lösung bzw. der Prozess sinnvoll, oder handelt es sich lediglich um Digiwashing? Welchem Zweck dient die Lösung bzw. der Prozess und welcher Mehrwert wird geboten? Und nicht zuletzt: wem und welchem Ausmaß könnte die Lösung schaden? Darunter fallen nicht nur die Auswirkungen auf Menschen, sondern auch auf unsere Umwelt.

Um ein anschauliches Beispiel zu nennen: Gerade im Geschäftsleben ist die E-Mail eines der wichtigsten Kommunikationsmittel. Was einst eine sinnvolle Erfindung mit Mehrwert war, ist heute allerdings längst überholt, auch wenn der ‚digitale Dinosaurier‘ den richtigen Umgang mit E-Mails gerade erst lernt. Ich habe auf LinkedIn unter dem Titel „E-mail has become obsolete.“ einen Beitrag veröffentlicht, in dem ich erkläre wie E-Mail-Programme funktionieren und wieso ich davon überzeugt bin, dass die E-Mail in den meisten Fällen überflüssig geworden ist. Die wichtigsten Argumente dafür möchte ich hier für Sie zusammenfassen: Es ist gut und wichtig, dass die E-Mail Papier spart und deutlich schneller versandt und empfangen werden kann als herkömmliche Briefe. Dass der Kreislauf einer E-Mail aber 10g CO2 zu unserem globalen Fußabdruck hinzufügt, immerhin die Hälfte des Kreislaufs eines herkömmlichen Briefes, während wir heute gleichzeitig mehr E-Mails am Tag versenden, als das globale Postwesen stemmen könnte, ist weniger gut. Und auch, dass ganze Berufsgruppen unter dem CC- und BCC-Wahn zu leiden haben, und dass die schiere Anzahl an Informationen uns überfordert und bis zum Digital Burn-out treibt, ist verrückt.

Wir entwickeln Bewältigungsstrategien, z. B. ‚smarte Filter‘, anstatt etwas am eigentlichen Problem zu ändern. Gleichzeitig ermöglichen Tools wie Slack, Microsoft Teams, Workplace, Ryver, Zoho Cliq, Fleep, Slenke, Flock, Teamwork-Chat und sogar Whatsapp produktive (Team!) Diskussionen auf eine Art und Weise, wie es E-Mail nie könnte. Anstatt also ein etwas besseres E-Mail Programm zu suchen, dass mit intelligenten Filtern den endlosen Kampf um die leere Inbox erträglicher macht, im Grunde aber nichts an der zuvor genannten Situation ändert, suchen Digitale Leader mit einem Digital Mindset nach sinnvollen und verantwortungsvollen Alternativen.

Digitalität beginnt im Kopf

Es ist leichter als gedacht, die eigenen digitalen Kompetenzen (engl.: digital literacy) zu erweitern. Der erste Schritt beginnt im Kopf mit der Frage, wo und wie die Digitalisierung die eigene Lebenswelt verbessern kann. Das kann im gesundheitlichen Bereich, in der Berufswelt oder bei der besseren Vernetzung mit Freunden, Bekannten, Gleichgesinnten sein. Wer den Möglichkeiten gegenüber aufgeschlossen ist, die sich durch neue Technologien eröffnen, findet auch die nötigen Wege, seine eigenen Handlungsfähigkeiten zu erweitern. Er oder sie kann sich mit Gleichgesinnten austauschen oder gezielt den Rat derer suchen, die schon ein bisschen fortgeschrittener sind. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, sich in Kursen sowohl offline als auch online weiter zu informieren. Weder Alter noch Geschlecht noch Lebensumfeld können hier Grenzen setzen.

Es ist die Neugierde, die uns aus der Komfortzone herauslockt. Wir sind am motiviertesten und leistungsfähigsten, wenn wir uns einer großen Herausforderung (engl.: challenge) gegenüber stehen, von der wir wissen, dass unsere Fähigkeiten und Kompetenzen (engl.: skills) gerade so ausreichen, um sie zu lösen. Das ist genau der Moment, in dem Menschen am leichtesten in einen Flow-Zustand verfallen, in dem Ihnen alles wie von selbst von der Hand geht. Aufgaben, die einen hohen Grad an Skills voraussetzen, aber keine Herausforderung mehr für uns darstellen, langweilen uns hingegen genauso wie Aufgaben, die weder besondere Skills benötigen, noch eine Herausforderung darstellen. Auf der anderen Seite setzen uns Aufgaben, die eine große Challenge darstellen für die wir uns nicht ausreichend fähig oder vorbereitet halten massiv unter Druck und können Frust, Stress und sogar lähmende Angst hervorrufen.

Christoph Magnussen hat einmal gesagt: „Die Challenge hat mit unserer Komfortzone zu tun. Unsere Skills markieren die Grenzen dieser Komfortzone.“[7] Ich denke er hat recht. Die Frage, die sich mir in diesem Zusammenhang allerdings stellt, ist: Wie schaffen wir es, die Neugierde unserer Mitmenschen dahingehend zu wecken, dass sie sich aus ihrer Komfortzone bewegen ohne bereits über die notwendigen Fähigkeiten und Kompetenzen zu verfügen? Denn es sind immer Herausforderungen, durch die wir lernen und wachsen.

Mitarbeiter:innen benötigen Unterstützung bei der digitalen Aus- und Weiterbildung. Marco Nink vom Beratungsunternehmen Gallup erklärt dazu: „Digitale Weiterbildung für alle sollte stattdessen die Devise sein — doch mit der hapert es. Jeder dritte Mitarbeiter (34%) fühlt sich dabei von seinem Arbeitgeber schlicht im Stich gelassen — egal wie alt er ist. Nur ein Fünftel der Befragten (21%) fühlen sich von ihrem Unternehmen dabei unterstützt, Fähigkeiten und Fertigkeiten auszubauen, um neue digitale Technologien effektiv zu nutzen“.[8] Nink sieht in einem Mangel an Weiterbildungsimpulsen für Mitarbeiter:innen zudem eine verpasste Chance der Mitarbeiterbindung. „Mitarbeiter wollen das Gefühl haben, dass sie von Ihrem Chef wahrgenommen und individuell gefördert werden. In der sich deutlich verändernden Arbeitswelt hat der direkte Vorgesetzte eine große Chance, Mitarbeiter emotional ans Unternehmen zu binden, indem er sie bei diesem Wandel unterstützt und begleitet. Mitarbeiter wollen dazulernen und sich weiterentwickeln“, bemerkt Nink und ergänzt: „in Unternehmen, wo die Spitze sich um die Digitalisierung der Belegschaft kümmert, haben die Mitarbeiter eine dreimal so hohe Bindung an ihren Betrieb“.[93]

Ich denke, ein wichtiger erster Schritt ist deshalb die Neudefinition der Rolle von Führungskräften und “Digital Leadership”. Mehr dazu folgt in meinem nächsten Artikel (Die Digitale (R)Evolution | Teil 5: Entwickeln Sie ein Digital Mindset).

Dies war ein Ausschnitt aus Bank 4.0: Wie Digital Leader Gewinne steigern, Kosten senken und neue Ertragsquellen erschließen

Literatur:

[1] Dufourmantelle, A. (2018:46): Lob des Risikos, Ein Plädoyer für das Ungewisse, 1. Auflage, aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2018

[2] Vgl. Linguee (2020): Prudence. In: Linguee Wörterbuch Englisch-Deutsch

[3] Vgl. Linguee (2020)

[4] Scheller, S. (2017): Digitales Mindset — was ist das und welche Bedeutung hat es für Personaler und Bewerber? in: Persoblogger.de (19.03.2017)

[5] Vgl. Strietzel, M., Streger, S. und Bremen, T. (2018:23ff.): Digitale Transformation im Banking — ein Überblick. In: Brühl, V. und Dorschel, J. (Hrsg.), Praxishandbuch Digital Banking, Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018, ISBN 978–3–658–18889–4, S. 13–29 & Roland Berger (2016): FinTechs in Europe. Roland Berger, München.

[6] Vgl. Strietzel et al. (2018:23ff.) & Roland Berger (2016)

[7] Magnussen, C. (2019): Das ist NICHT New Work — Warum viele Unternehmen neue Arbeit falsch verstehen (Deutsche Keynote). In: Christoph Magnussen, Youtube (12.04.2019)

[8] Nink, zitiert in Tödtmann, C. (2019): Gallup-Studie 2019: Rund sechs Millionen Beschäftigte glauben nicht an ihr Unternehmen — mit 122 Milliarden Euro Folgeschäden, schuld sind die Führungskräfte selbst. In: Wirtschafts Woche Management-Blog (12.09.2019)

[9] Nink, zitiert in Tödtmann (2019)

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